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“Serafico. Ich habe Ihnen eine Menge zu sagen…”

Lettere di Marie Thurn und Taxis a Rainer Maria Rilke
Segnatura: 124
Data completa: 1918 apr. 14
Descrizione: bordata a lutto; con busta indirizzata Briefwechsel: n. 286
Trascrizione: Serafico - ich habe Ihnen eine Menge zu sagen - aber Alex spielt soeben - eine Sonate von Bach für Geige und «Cembalo» - und Sie sollten da sein - pour entendre «le vieillard qui a vu Dieu» - oh welche Seelen gibt einem die Musik - wie wird ein jedes Fühlen verhundertfacht bis man es kaum ertragen kann - und so viele Erinnerungen kommen alle - eine jede winkt, ruft Erkennst Du mich - Und jetzt spielt er einen Lully - oh Gott und es kommt eine meiner verlorenen Seelen - sie kommt mit Augen voller Thränen und zeigt mit zitternder Hand - nach Westen - Serafico, Serafico dieser Nebel von Blut und Thränen wird er nie mehr schwinden? Werden wir alle in ihm untergehen ... wird alles untergehen Die Musik hat aufgehört ich glaube ich habe Ihnen einen Quatsch geschrieben - aber cela ne fait rien diese Seele von mir ist Ihnen sehr nahe - Und ich hatte mich so gefreut auf Sie - und jetzt ist wieder nichts. Ich gehe nicht nach Holland, Pascha ist versetzt - nach Sofia - es soll sehr ehrenvoll sein und man hat ihn ganz speziell ausgesucht - aber ich glaube daß er lieber in Haag geblieben sein würde, und ich wäre so gerne mit ihm dorten gewesen - herumgefahren in den kleinen verträumten Städten, Bilder angesehen, alte Sachen gekauft - es wäre ein wenig wie in den guten alten Zeiten gewesen - Erinnern Sie sich Weimar, Serafico, und die kleine Miniatur der Kaiserin Maria Ludovica - und Ihren blauen Einband - und den fantastischen Garten? Und der weiße Speisesaal in Saonara - und der Mondschein in der Arena - und Petrarca's einsames Grab - Jetzt werde ich wohl nach Duino fahren - ich habe heute nacht von Duino geträumt - ich wäre hingekommen und hätte gefunden daß auch der Thurm zerstört war - und wie ich in Thränen da stand - (denn sehen Sie der Thurm ist die Seele - solange er lebt lebt Duino) wurde mir ich weiß nicht wie oder durch wen, ein altes Manuscript gezeigt, das sehe ich noch vor mir, mit dem alten gelben Pergament und der schönen Schrift des 13ten Jahrhunderts, und darin stand, daß eben im 13ten Jahrhundert die Nonne - (den Namen weiß ich nicht mehr - Aldegunde Rosamunde, so was -) über die Zerstörung von Duino bitterlich geweint hatte - Ich hielt noch die Schrift in Händen und da wurde ich jäh aufgeweckt -Wie viele Seelen haben Ihnen heute geschrieben Serafico, und Sie gerufen - längst entschwundene Seelen - und Seelen die noch kommen werden - und die unter der Schwelle flüstern - und auch vielleicht Seelen die gehen wollen - Es blühen alle Obstbäume die Kirschenblüthen leuchten wie frisch gefallener Schnee - ich war heute im Wald - der starke Wind kam von Süden. Manchmal schien es mir er brächte einen Geruch vom Meer, und sein Rauschen - Jetzt sind es bald 2 Jahre daß ich nicht unten war - jetzt blühen die violari dunkelroth und goldgelb auf den Felsen, und die ireos haben große Knospen - Ob Ihr Baum noch steht? Wissen Sie l‘arbre hanté? Ich habe Ihren Brief für den ich vielmals danke (so wie auch für das Telegramm) wieder gelesen. Serafico ich will nicht eine jede Möglichkeit eines Besuches in München absprechen, ich wünsche mir so mit Ihnen, mit Kassner etwas zu plauschen - Auch Meyrink möchte ich gerne sehen - denn für den köstlichen geheimnissvollen Kern kann man das Übrige mitnehmen, ja Sie haben vielleicht ganz recht aber es ist gleichgültig, und schließlich diese Art Dinge haben immer eine Attraction und mir kommt das letzte Buch sogar recht schlenderisch hingeworfen (vor). Ich möchte ihn fragen ob ich recht habe (ich bin es übrigens ganz sicher) eine Phrase eine Bestimmte als den eigentlichen Grund des ganzen Buches zu finden. - (Sie werden merken, Serafico, daß nicht mehr musicirt wird -) Wenn Ihre Nachbarin zur Linken (côté du cææur aïe aïe!) Resi Taxis geb. D‘Orsay ist, so soll sie der Kukuk holen - (die Resi nicht Sie!) denn sie ist eine Gans und ich habe einen sehr langen Zahn auf sie. Jedenfalls, sollte ich in Mai nach München kommen, so will ich nur sehen: Den Dichter Den Philosophen Den Astronomen Den Zauberer. Jetzt noch schnell eine kleine Geschichte von Alex - etwas was nur ihm passiren kann. Heute sehr früh steht er auf, macht das Fenster auf welches wegen Sturm zu gewesen war und schaut hinaus. Als er wieder ins Bett will sieht er beim Bett am Boden einen Gegenstand ganz dunkel fast so groß wie eine Faust - der sich bewegt. Es war noch nicht sehr licht, er schaut genauer, und es ist eine Horniß-Königin!! Also eine der allergrößten Seltenheiten - und sie muß die ganze Nacht bei ihm geschlafen haben was ich nebenbei nicht anständig finde. Natürlich, Alex, als Yoghi, bringt nie ein Thier um, er hat Ihre geflügelte Majestät mit größter Rücksicht aufgeklaubt und zum Fenster gebracht; sie wollte zuerst gar nicht weg. - Also man könnte daraus un fioretto di S. Francesco schreiben. «Come frate Alessio diede la libertà a suor Ape.» Noch etwas muß ich Ihnen erzählen Serafico. Wie ich einen lebend gewordenen Traum Leonardo da Vincis begegnet habe. Es ist ganz ernst gemeint. Vor 500 Jahren hat gewiß der große Leonardo von diesem Wesen geträumt - Es ist die älteste Tochter von Vera Czernin - Woher hat sie dieses merkwürdige Florentiner Kind bekommen? Das ist schon wieder eine von diesen räthselhaften Begebenheiten welche mir so viel zu denken geben. Car il n’y a ici aucun sous-entendu, nota bene. Das Mädel ist 13½ Jahre alt, größer um einen halben Kopf als ich, unheimlich, unwahrscheinlich dünn und zart - und ein Gesicht ... ja das ganz genaue Gesicht eines Engels vom Vinci, so süß und so herb - so lang schmal und blaß, wie aus Mondschein modellirt - mit langen lichten Augen, nicht blau nicht grün nicht braun, das alles zugleich - Augen gegen die Schläfen hinaufziehend - und die so zärtlich, so geheimnissvoll und unheimlich blicken - mit dem etwas geschwollenen unteren Lid, wie bei der Gioconda und den dünnen fast schwarzen Bogen der Augenbrauen. - Die Nase klein, ganz gerade, köstlich gezeichnet - und das aller unheimlichste der schmale weichgeschwungene etwas große Mund mit blaßrosen Lippen welche von einer Seite scharf hinaufgehen, wie zu einem kleinen verhaltenen ironischen Lächeln - der Mund des einen Engels in der Vierge aux Rockers - und über das alles eine königliche Mähne von goldblonden gewellten offenen Haaren, wie auf einer Medaille von Pisanello. Das Kind ist von einer seltenen Intelligenz - aber sehr still - sehr grazios, sehr hochmüthig. Rasend sympathisch und rasend unheimlich. - Serafico, haben Sie je einen so verruckten Brief schon erhalten - mit Thränen und Lachen, mit Bach und Lully, Hornissen und Kirschenblüthen, Träumen und dummen Gänsen, Leonardo und St Franziskus? Alles untereinander - und doch eben alles das wunderbare, verzweifelte, köstliche geheimnissvolle Leben .... Ob unser Herr Gott (der hat auch noch gefehlt) jemals jemanden andern finden wird qui saurait apprécier ses æuvres comme moi? Ich glaube ich würde Ihm eventuell sehr fehlen müssen, das ist Er nicht gewöhnt, besonders von einer Tochter Evas nach dem peinlichen Intermezzo im Paradies .... Werden Sie sicher in München sein im Mai? und Kassner? und die Anderen? - Antworten Sie mir gleich lieber Serafico dieser 12 Seiten lange Brief verdient es - und alles alles Herzliche MT
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