“Meine theuere Fürstin, da bin ich nun, Ragaz!”
Lettere di Rainer Maria Rilke a Marie Thurn und Taxis
Segnatura: 15
Data completa: 1925 set. 17
Descrizione: con busta indirizzata
Briefwechsel: n. 432
Trascrizione: Meine theuere Fürstin,
da bin ich nun, Ragaz!: mit drei Monaten Verspätung, und es ist mein erstes am ersten Morgen, Ihnen dieses Zeichen zu schreiben: meines Gedenkens und meines Entbehrens in Einem. Alles hier giebt mir Ihre Abwesenheit zu verstehen und zu fühlen, der ganze Ort drückt überhaupt Abwesenheit aus, vingt personnes taut au plus à l‘Hôtel et la plupart des volets clos. Es scheint, daß die Wetteränderung, die vor Kurzem einfiel, alle Leute verjagt hat. Ich bin hier und thue Buße und leiste Besinnung, zu der ich nun seit lange nicht gekommen bin; besann ich mich mal, so besann ich mich schief, ins lästige Physische hinein oder auf eine Seelenecke zu, die davon verdüstert war. Nie ins Ganze. Das sich-insGanze-besinnen, ach, das hab ich recht eigentlich verlernt und bin darüber, wie das ja nur gerecht ist, in höchst privates Unglück gerathen.
Am 18ten August verließ ich Paris, ging über Sierre an den Lago Maggiore, wohin eine Verabredung mich nöthigte, kam nach Sierre zurück, merkte, daß es mir an Muth fehle zu der Einsamkeit meines Thurms, erinnerte mich der wunderbaren Milderung und Entspannung, die mir voriges Jahr einige (leider zu spät versuchte) ragazer Bäder bereitet hatten ... , fuhr gestern hierher und fand, hélas, einen verödeten vorherbstlichen Ort dem bei noch voll belaubten Bäumen die Augen zufallen. Trotzdem, acht bis zehn Tage, wenn‘s nicht ganz einregnet und die letzten Abreisen um mich nicht zu beispielgebend werden -, solche acht bis zehn Tage möcht ich gleichwohl aushalten, und, läßts das Wetter zu, so sollten immerhin ein paar Bäder an die Reihe kommen.
Ich weiß noch nicht einmal, liebe Fürstin, ob Sie mit gutem Erfolg, auch heuer, von hier fortgegangen sind? Fast, fast wärs in meinem Interesse zu wünschen, der Erfolg wäre nicht zu endgültig gewesen, denn im nächsten Jahr versprech ich pünktlich zu sein und womöglich, zur Sicherheit, schon einige Tage vor Ihnen den Hof Ragaz für die Zeit Ihres Hierseins zu beziehen. Was fehlt es mir, Sie heuer nicht gesehen zu haben!
Am nächsten Morgen (18. September) (Freitag)
Reue, um Reue, seit gestern, liebe Fürstin, daß ich nicht im Juny hierhergekommen bin: was hätten wir für gute Stunden gehabt und wie wären solche Stunden mir lieb und hülfreich gewesen. Und die Bäder dazu! Damals ging es mir noch verhältnismäßig besser und behaglicher als jetzt, und der Einfluß der ragazer Quellen hätte wahrscheinlich besorgt, daß ich nicht ins Ärgere gerathen wäre und einen Vorrath Widerstands in den Winter hätte mitnehmen dürfen, in diesen unversehns schon so nahen Winter, vor dem mir graut. Sinds nur meine persönlichen körperlichen Beschwerden und Beklemmnisse, die mich so mißtrauisch machen, oder ists wirklich ein ungutes Jahr, dieses 1925? Manchmal mein ich, nicht nur diese Seite, die es mir zukehrt, wäre so drohend und verhängnisvoll, ganz als wärs wirklich das Datum eines uns noch unbekannten aber schon gefällten Urtheils, durch das die Erde, ich weiß nicht wozu, verdammt worden ist. Alle diese Züge, die mit soviel Überzeugung, daß es genug sei, aus den Geleisen jagen, immer wieder, immer weiter ... Ich trage das Gewicht einer immensen Beunruhigung und habe das Gefühl, als sollte man möglichst ohne Unternehmung, auf den Fußspitzen über den Boden dieses Jahresrests gehen, um seinen Dämonen nur ja nicht aufzufallen. Sie werden sich sagen: Ah, voilà qu’il revient dans un joli état …! Ists Paris? Ists nur allein dieser sich immer mehr in meinem Körper [sich] befestigende malaise, der mich so schwarzsüchtig macht? Jedenfalls wars dieser dumme unzuverlässige Zustand meiner sonst so leicht freudigen und zustimmigen Natur, der mir Paris mehr und mehr zu einer Konfusion, zu einem Zuviel hat anwachsen lassen; und ich blieb am Ende nur, um‘s doch noch zu einiger Beherrschung der ungeordneten .Überfülle zu bringen, zu einer Übersicht. Umsonst am Ende: was ich mitgebracht habe, ist ein dicker Erinnerungsknäuel, der sich, sooft ich ihn bei einem Fadenende zur Rede stelle, nur noch wirrer und trotziger zusammenzieht. Ich darf nicht ungerecht sein: es kam viel Merkwürdiges und Besonderes mit allen diesen Strömungen auf mich zu ... , aber irgendwie blieb auch über dem Erwünschten oder dem, was Wunsch und Erwartung weit übertraf, der Segen aus, wie soll man‘s nennen, die Gnade, die es ins reine Gelingen und Gedeihen rückt.
Ich erschrecke in der Einsicht, wieviel mir vom Physischen Versagen her verdorben werden kann; ich gehöre nicht zu denen, die, in solchen Fällen, Geist wider Körper stehen und sich, vom Geiste her, zu ihrem Recht durchsetzen ... Fürstin: auch mein Schweigen stammt aus denselben Hemmungen; aber hier, unter dem Andrang sovieler Erinnerungen, erscheint es mir gleich in seiner ganzen Unnatur. Dürfte ich doch mit dem meinen, gebrochenen, auf eine Stelle weisen, wo sich das Ihre leicht brechen läßt, und sei‘s nur mit zehn Zeilen!
Ihr
D.S.
Alles herzlich Liebe dem Fürsten!